Hat Konrad Adenauer uns überhaupt noch irgendetwas zu sagen?

Junge Teilnehmer der in der Urania abgehaltenen Rosa-Luxemburg-Konferenz vom Januar 2011 fassten ihre abgrundtiefe Enttäuschung über das wiedervereinigte Deutschland im Deutschlandfunk so zusammen:

Theoretisch will ich die Mauer zurück.”

“Was nützt einem die ganze Reisefreiheit, wenn ich keine Kohle habe, um ins Ausland zu fahren?“

“Ich bin ja auch nur ein Opfer der verfehlten Berliner Schulpolitik”, seufzte ein Kreuzberger Bürger im Jahr 2010, der in Berlin geboren wurde, hier aufgewachsen ist und jetzt Taxi fährt, weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch gelernt hat, keinen Schulabschluss geschafft hat.

Wir diagnostizieren eiskalt: a) die Sehnsucht nach einem staatlichen Schutzwall,  b) die Klage über zu wenig eigenes Geld im neuen Staat, c) die Selbstdarstellung als Opfer der Politik. Was verbindet diese drei authentischen Selbstzeugnisse? Sicherlich die Abschiebung der Verantwortung für das eigene Lebensglück auf den Staat, auf die Politik!

Kein Zweifel: Der Staat in Form des Versorgungs- und Sozialstaates, der durch gute Politik alle Menschen restlos glücklich machen soll, ist für viele Menschen heute zu DEM großen Fetisch geworden, den früher, in unseligen Zeiten, das Militär und der Militärstaat darstellten.

Man kann diese überhöhte Schätzung des Staates und der Politik an zahlreichen Berliner Debatten, etwa zur Erziehung der Kinder, zum Religionsunterricht, zur Staatsverschuldung, zur Wohnungspolitik, zur sozialen Sicherheit, aber nicht zuletzt auch an den zahlreichen Skandälchen und Skandalen festmachen, die die Berliner Landespolitik seit Jahrzehnten immer wieder erschüttern und auch erschüttern werden.

Woher kommt diese überspannte, diese mythisch überhöhte Erwartung, die Politik trage die Verantwortung für das individuelle Gelingen der Lebensentwürfe, der Staat müsse die Bürger glücklich machen?

Eine mögliche Erklärung lieferte Konrad Adenauer am 24. März 1946 in der Aula der Universität Köln:

Das deutsche Volk krankt seit vielen Jahrzehnten in allen seinen Schichten an einer falschen Auffassung vom Staat, von der Macht, von der Stellung der Einzelperson. Es hat den Staat zum Götzen gemacht und auf den Altar erhoben. Die Einzelperson, ihre Würde und ihren Wert hat es diesem Götzen geopfert. Die Überzeugung von der Staatsomnipotenz, von dem Vorrang des Staates und der im Staat gesammelten Macht vor allen anderen, den dauernden, den ewigen Gütern der Menschheit, ist in zwei Schüben in Deutschland zur Herrschaft gelangt. Zunächst breitete sich diese Überzeugung von Preußen ausgehend nach den Freiheitskriegen aus. Dann eroberte sie nach dem siegreichen Krieg von 1870/71 ganz Deutschland.

Der Staat wurde durch den von Herder und den Romantikern aufgedeckten Volksgeist, vor allem durch Hegels Auffassung vom Staat als der verkörperten Vernunft und Sittlichkeit, in dem Bewusstsein des Volkes zu einem fast göttlichen Wesen. Mit der Überhöhung des Staates war zwangsläufig verbunden ein Absinken in der Bewertung der Einzelperson. Macht ist mit dem Wesen des Staates untrennbar verbunden. Die Einrichtung, in der sich staatliche Macht am sinnfälligsten und eindruckvollsten äußert, ist das Heer. So wurde der Militarismus zum beherrschenden Faktor im Denken und Fühlen breitester Volksschichten.

Hat Adenauer mit seiner schneidend-scharfen Diagnose recht? Was meint ihr?

Dies sei dahingestellt! In jedem Fall meinen wir festhalten zu dürfen: Ja, Adenauer, „der Alte“, hat uns auch heute noch etwas zu sagen.

Er ist nicht bloß eine Figur aus dem Wachsfigurenkabinett der Geschichte (hier: Madame Toussaud’s in Berlin).

Lokalstpolitik, oder: Böse Zauseleien zwischen Selbermachern und Obrigkeit überwinden!

Der Stammtisch führte gestern nach echter deutscher Stammtischart tiefgreifende Gespräche im Stresemann über den 1) Wahlkampf in Berlin („jetzt aber!“), 2) über neuartige Verkehrskonzepte wie etwa Tempo 20 in der Bergmannnstraße oder im Flughafenviertel („warum nicht?“), 3) Kooperation zwischen Privatschulen und staatlichen Schulen („why not?“),  4) norwegische Stärke, 5) sowie Klatsch&Tratsch („gehört auch dazu“).

ad 1) Der Wahlkampf beginnt mit dem Plakatieren der Großplakate in allem Ernst. Alle Mitglieder aller Parteien haben hier die Chance, ihre Chancen auf demokratische Mitwirkung wahrzunehmen. Denn sie SIND die Partei, wenn sie im Namen der Partei auf die Straße gehen.

ad 2) Im Flughafenviertel Tempelhof, aber auch in der Bergmannstraße sollen nach dem Willen der Senatsverwaltung neuartige Konzepte der Verkehrsberuhigung erprobt werden. Tempo 20, Begegnungszonen nach Schweizer Vorbild werden erwogen und erörtert.  Hier kamen wir zu dem Schluss, dass sich „eines nicht für alle schickt.“ In jedem einzelnen Fall muss geprüft werden, wie die berechtigten Anwohner-Interessen mit dem unleugbaren Bedürfnis nach einem weitgehend flüssigen, sicheren Verkehrsgeschehen vereinbart werden können. Ein Teilnehmer prägte das hübsche Bonmot: „Wir sprechen hier von Lokalstpolitik“ – und daran scheiden sich eben erfahrungsgemäß die Geister.

ad 3) „Jetzt machen wir unsere Schule selbst.“ So das Motto der vom Staate maßlos enttäuschten Kreuzberger Eltern, die sich vor Jahren zusammenfanden, um eine evangelische Privatschule zu gründen. Sie griffen damit das Motto einer Berliner Parteineugründung einer Gruppe vom Staate maßlos enttäuschter Kreuzberger Menschen aus dem Jahre 1978 auf: „Jetzt wählen wir uns selbst.

Es gab Riesenzoff, Riesenärger! Seine hocherfahrene grüne Politmajestät in und zu Kreuzberg war getreu dem damaligen Motto selbstverständlich auch für die Kreuzberger Privatschule. Die linksgrüne  Bezirksobrigkeit in Friedrichshain-Kreuzberg hingegen stand in aller Öffentlichkeit wie so oft als verbietend-kontrollierende Verhinderer da.  Niederschmetternd: Beide Seiten – die Selbermacher von unten und die Obrigkeit von oben – sprachen nicht mehr miteinander. Die Bildungspolitiker des Bezirks wurden von verbitterten Eltern zu unerwünschten Personen erklärt und nicht mehr eingeladen – etwas, was sich kürzlich im Kreuzberger Hasir widerholt hat.

Stammtischweisheit gestern: Die böse, arge Zauselei zwischen den geschworenen Verfechtern der staatlichen Regelgrundschule und den privaten Initiativen zur Gründung dieser oder jener Privatschule hat sich überholt. Das alte Lagerdenken gilt nicht mehr. Die bildungsbewussten Eltern aus den Ländern Polen, Palästina, Italien, Türkei, Russland, Baden, Berlin, Württemberg, Frankreich  usw. verlassen ja weiterhin in großen Zahlen das staatlich hochsubventionierte Auffangbecken, den hochtourigen Polit-Durchlauferhitzer, die riesige Selbsterfahrungs-Kita für Erwachsene, genannt Kreuzberg.

Es wäre für den Bezirk ein Segen, wenn Privatschulen sich in den Bezirk niederließen, wenn sie nach und nach die Familien zurückholten, die jetzt eine nach der anderen sang- und klanglos Kreuzberg verlassen oder längst verlassen haben. Wichtig: Die Privatschulen sollten sich von Anfang als Teil des Umfeldes betrachten, sollten sich einbringen, sich öffnen zu den staatlichen Grundschulen hin. Warum nicht einen Tag zusammen Unterricht machen, gemeinsam Sportstätten nutzen, gemeinsame Konzerte abhalten? Gute Schüler der staatlichen Grundschule können jüngeren schlechteren Schülern der privaten Grundschule Nachhilfe geben!  Gemeinsam&gelassen läuft’s besser.

ad 4) Norwegen liefert ein Beispiel unerschütterlichen Gemeinsinns. Vorbildlich. Ein Teilnhmer meinte: „Die Norweger sind uns weit voraus.“ Ein anderer wandte ein: „Wir wissen nicht, was läuft. Wir kennen nur die Medienberichte.“

ad 5) Die, die dabei waren, wissen, was geklatscht und getratscht wurde. Doch gehört dies an nur den Stammtisch. In das finstere Hinterzimmer.  Es wird nicht nach außen getragen. Die, die nicht dabei waren, wissen es nicht, was geklatscht und getratscht wurde, und werden es nie erfahren.

Bild: Ehemalige Rosegger-Schule, Bergmannstraße 28, Basketballplatz ohne Basketballkorb

Sind Gewalt und Aggression Urtriebe des Menschen?

Der Psychiater Joachim Bauer untersucht in seinem Buch „Schmerzgrenze“ die Zusammenhänge von Gewaltneigung, sozialen Erfahrungen und gesellschaftlicher Ungleichheit. Das Aggressionspotential jedes Menschen ist demzufolge nicht unveränderlich gegeben, sondern stets abhängig von Erfahrungen wie etwa Kränkung, Demütigung einerseits, Lob und Anerkennung andererseits. Kränkungen und Demütigungen steigern die Gewaltneigung, Lob und Anerkennung vermindern sie.

Darüber berichtet Anja Wagenblast in der Zeitung WELT:

Die amerikanische Neuropsychologin Naomi Eisenberger fand jedoch heraus, dass das Gehirn soziale Ausgrenzung, Demütigung oder Armut genauso empfindet und mit Aggression beantwortet, wie wenn körperliche Gewalt zugefügt wird. Psychologen wissen schon lange, dass Kränkung aggressiv macht. Doch das wurde nun durch Eisenberger auch neurobiologisch bestätigt.„Dabei werden Teile des neuronalen Schmerzsystems aktiviert, die eigentlich für die Wahrnehmung körperlicher Schmerzen zuständig sind. Das ist der Grund, warum wir nicht nur bei physischem Schmerz mit Aggression reagieren, sondern auch dann, wen man uns sozial zurückweist“, sagt Bauer.

viaPsychologie: Aggression ist kein Urtrieb des Menschen – Nachrichten Gesundheit – Psychologie – WELT ONLINE.

Joachim Bauer: Schmerzgrenze

Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, 7 s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-89667-437-1
€ 18,95 [D] | € 19,50 [A] | CHF 29,90* (empf. VK-Preis)

Verlag: Blessing

Unsere Abbildung: Bahnhof Rostock, Aufnahme vom 05. Juli 2011. An dieser Stelle wurde am Vatertag ein Mann getötet, nachdem ein Streit darüber entflammt war, wer den schöneren Vatertagswagen habe.

Wie Gewalt entsteht und wohin sie führt …

Wo begegnet uns Gewalt? Welche Formen der Gewalt erleben wir? Ist Gewalt unvermeidlich? Gehört sie zum Menschen? Wie kann man Gewalt verhindern? Solche scheinbar einfachen Fragen legte uns Tanja Woywat am 21.07. vor. Der Stammtisch war gut besucht, insgesamt kamen mehr als 12 Leute zum friedfertigen Diskutieren und einträchtigen Nachdenken, darunter 2 Direktkandidaten der CDU, nämlich Kurt Wansner (Kreuzberg) und Kerstin Neumann (Wedding).

Wir begannen mit einer Umschau: Gewalt begegnet nicht nur in der Prügelei oder dem Messerstich. Es gibt auch viel subtilere, aber oft schlimmere Formen der Gewalt: das beleidigende Wort, das Mobbing, das soziale Töten. Ihnen alles ist gemeinsam, dass ein Stärkerer oder eine stärkere Gruppe einem Schwächeren ihren Willen aufzwingt.

Ein entscheidender Ursprung von Gewalt scheinen die Kindheitserfahrungen zu sein. Vernachlässigung, mangelnde Regelsetzung können ebenso zu späteren Gewaltausbrüchen führen wie eine „Kultur der Gewalt“ innerhalb der Familie. Gerade furchtbare sexuelle Gewalt gegenüber Kindern im häuslichen Umfeld wird allzu oft übersehen oder verharmlost, wusste eine Teilnehmerin aus Wedding zu berichten.

Was Jugendgewalt angeht, so bleibt festzuhalten, dass sie sich nach einigen wilden Jahren bei den jungen Männern meist im Alter von etwa 21 Jahren „auswächst“. Zu spät allerdings, denn bis dahin ist schon viel Schaden angerichtet.

Ist Gewalt stets Ausdruck von Sprachlosigkeit? Dieser Formel vermochten wir nicht zuzustimmen. Es gibt auch höchst beredte Gewalttäter, denen man „so etwas“ nie zutrauen würde!

Medien spielen bei der Gewöhnung an Gewalt eine oft verhängnisvolle Rolle. Man gewöhnt sich an Gewalt, stumpft ab und fordert letztlich mehr Gewaltdarstellungen.

Was kann Politik unternehmen, um Gewalt einzudämmen?

1) Kindern ein geborgenes, regelsetzendes Umfeld sichern. Zentrale Stätte der Gewaltprägung und Gewaltvermeidung scheint die Familie zu sein. Hier kommt den Vätern und überhaupt den männlichen Vorbildern eine entscheidende Rolle zu. Ein ausgewogenes Geschlechterverhälntiss zwischen männlichen und weiblichen Lehrkräften wäre gut!

2) Gewalt erkennen – rechtzeitig dazwischen gehen. Zur Gewaltlosigkeit hin erziehen. Medien beobachten, Kinder vor übertriebenen Gewaltdarstellungen schützen.

3) „Werdet nährende Regentropfen für die Gemeinschaft, in der ihr lebt!“ So ein Spruch des Propheten Mohammed. Ein muslimischer Gesprächsteilnehmer aus Spandau entfaltete mit großer, bewegender Kraft seine Vision von einem guten, einander zugewandten Leben aller Menschen in der Gemeinde. Jeder Mensch berge in sich diese Keime des Guten. Das Gute im Menschen zu stärken, sei die beste Gewaltprävention.

Nach 4 Stunden (!) lebhafter Diskussion klang der Abend im Gefühl aus, das  wir uns wiedersehen  und einander ein Stück weit voranbringen werden.

Vielleicht an anderen Themen, vielleicht am selben Thema uns abarbeitend. Ein Riesenthema lässt sich sicher nicht an einem Abend erschöpfen. Aber Keime des Guten anzulegen, das ist uns sicher gelungen.

Lerne durch Leiden auf der Fahrradspur!

Über die Mailing-Liste ADFC-Sicherheitsarbeit erreichte uns aus der Feder Stefan Jankes soeben folgende Meldung:
„Originelles Fahrrad-Protestvideo wird zum Internet-Hit

Schmerzhaft: Aus Protest gegen ein seiner Meinung nach ungerechtfertiges Bußgeld hat der amerikanische Filmemacher Casey Neistat ungewöhnliche Maßnahmen ergriffen. Der 29-Jährige, der mit seinem Bruder zusammen mehrere Kurzfilme drehte und deren TV-Show „The Neistat Brothers“ auf dem US-Sender HBO läuft, rächte sich auf die Art und Weise, die er am besten kann: Sein Protest-Video „Bike Lanes“ ist mit fast einer Million Klicks in zwei Tagen zum Youtube-Hit geworden und hat inzwischen sogar die Aufmerksamkeit des New Yorker Bürgermeisters Michael Bloomberg auf sich gezogen.

http://www.youtube.com/watch?v=bzE-IMaegzQ

Gewalt – wie stumpf sind wir? Ein Abend mit Tanja Woywat

„Wo kommt eigentlich all die Gewalt her?“ Diese Frage steht am Donnerstag, 21.07.2011, im Mittelpunkt unseres Treffens in der Wirtschaft Stresemann. Tanja wird uns einführen.
Gewalt und Aggression gehören leider zur Realität und lassen sich aus der täglichen Berichterstattung sicher nicht völlig verbannen. Aber die Lust an der Angst, Fast food fürs Gehirn und Voyeurismus für die Augen regen tagtäglich die niedrigsten Instinkte an und führen unweigerlich zu neuer Gewalt. So mancher >Berichterstatter< vermittelt dem Plebs das Gefühl hautnah dabeigewesen zu sein und dennoch nicht betroffen. Auf diese Weise genießt der Pöbel seine tiefe innere Befriedigung. peter e. schumacher (*1941), Publizist

Es wird spannend. Donnerstag, 18 Uhr.

Bild: S-Bahnhof Lichtenberg, Gedenkstätte für ein Todesopfer. Aufnahme vom 19.02.2011