“Guter Mond, du gehst so stille” – dieses Lied sang der Vater gestern in allen 7 Strophen für seinen kleinen Sohn, wie es einst sein eigener Vater auch sang. Nach einem anstrengenden Tag entfaltete das Singen des Liedes eine unglaublich befreiende, lindernde Wirkung. Der Sohn sagte dann: “Jetzt singe das ganze Lied noch einmal!” Der Vater traute seinen Ohren nicht.
Der Vater schüttelte alle Sorgen ab und schlief den erquickenden Schlaf.
Aus den Schluchten Kreuzbergs erreichte dieses Blog das folgende Klagelied eines Kreuzberger Familienvaters. Wir stellen das Klagelied hiermit kommentarlos zur offenen Diskussion – Widerklage ist ausdrücklich zugelassen! Lesen Sie selbst:
Das Buch “Die schönsten Volks- und Wanderlieder” hatte ich nahezu druckfrisch von meinem Besuch der Buchmesse Leipzig mit nachhause genommen und schon im ICE leise zu singen angefangen.
Die Kinder von heute lernen diese Lieder, die teilweise über mehrere Jahrhunderte weitergegeben worden sind, nicht mehr in der Schule. Ich wiederum kenne keine Lieder, die meine Kinder in den Kreuzberger Kitas und Schulen gelernt hätten. Die Lieder im Musikbuch der Grundschule sind mir alle unbekannt. Keines bleibt haften. Keines dieser Lieder werden Erwachsene und Kinder jemals gemeinsam außerhalb der Schule singen.
Rainer Maria Rilke stellte im Malte Laurids Brigge fest: “Dass man erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein.” Mir scheint: “Dass man die Kinder singen lehrte, das war vor unserer Zeit.”
Ich denke: Es wäre doch schön, wenn die Kinder in Kita und Schule Lieder sängen – nebenbei würden sie auch eine gute deutsche Aussprache erlernen. Mir fällt auf, dass die Aussprache des Deutschen sich bei Kindern und Jugendlichen in Berlin schon sehr zu wandeln beginnt. Die Kinder verschlucken immer mehr Laute, die Vokale werden immer farbloser, Quantitäten verschwimmen, oft habe ich das Gefühl, die Berliner Kinder “kriegen die Kiefer nicht mehr auseinander”. Es wird vieles verhuscht und vernuschelt, die Satzmelodie ändert sich. Zwischen dem Deutsch eines Lessing, eines Goethe, eines Heine, eines Marx, eines Böll und dem der heutigen Berliner Jugend öffnen sich Risse und Klüfte, Schluchten und Spalten.
So erzählte mir einmal ein Neuköllner Sozialarbeiter folgenden authentischen Fall: „Eine 14-jährige Neuköllner Schülerin sollte folgende Aufgabe lösen: Ein Berliner Currywurst-Verkäufer kaufte für einen Tag Zutaten für 200 Euro ein. Er verkaufte an diesem Tag 150 Mal Currywurst mit Pommes zum Preis von 3,80 Euro. Wieviel betrug sein Gewinn?“
Die Neuköllner Schülerin erklärte sich außerstande, die Aufgabe zu berechnen. Warum? Sie gab an: „Ich erkenne den Betrug nicht! Wo soll denn hier ein Betrug vorliegen?“
Erklärung: Die Fragestellung war für die Schülerin wegen mangelnder Sprachbeherrschung nicht verständlich. Sie kannte das Verbum „betragen“ oder mindestens das Präteritum von „betragen“ nicht.
Derartige Fälle geschehen jeden Tag zu Dutzenden in Berlins Schulen, wohlgemerkt bei Kindern, die hier geboren und hier aufgewachsen sind, hier die Kitas und hier die Schulen besucht haben.
Tausende und abertausende Berliner Kinder verlassen so die Schulen jedes Jahr mit rudimentären Deutschkenntnissen. Vielleicht eine Folge dessen, dass fast nicht mehr gesungen wird?
Es gibt nämlich kein besseres Mittel, die Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache rasch, effektiv und dauerhaft in die Besonderheiten der deutschen Lautbildung, der Aussprache und des Wortschatzes einzuführen als tägliches chorisches Singen mindestens eines der etwa 200 bis 300 bekanntesten deutschen Volkslieder.
Enthalten sind diese unersetzlichen Schatz- und Kunststücke etwa in folgender Sammlung:
Die schönsten Volks- und Wanderlieder. Texte und Melodien. Herausgegeben von Günter Beck. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, März 2011, 304 Seiten, € 8.-
Bild: Havelländisches Luch in der Nähe von Pessin