Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern
Und verstehe die Freiheit
Aufzubrechen, wohin er will.
Das ist Freiheit in der Sprache des Herzens, ausgedrückt vom schwäbischen Dichter Friedrich Hölderlin in seinem Gedicht „Lebenslauf“. Recht jedes Menschen ist es, die Freiheit zu genießen, aufzubrechen, wohin sie oder will.
In der Sprache der Politik wird man sagen: Jeder Mensch hat das Recht, „selbst zu definieren, als was sie oder er sich sieht“. In der Sprache des Grundgesetzes: „Jeder Mensch hat das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit.“
„So wie die einen sich als türkische Kurden oder alevitische Türken sehen, so muss man sich als Deutsch-Türke, deutscher Muslim, anatolischer Schwabe, Kreuzberger oder ganz einfach als Europäer definieren können, ohne dass einem jemand sagt, was richtig und was falsch ist.“
So schreibt es ein schwäbischer Politiker in einem Buch über das Heimatland seiner Vorfahren. Der schwäbische Politiker stellt also wie der schwäbische Dichter die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen obenan. Die Freiheit des Aufbruches zählt mehr als die Unterwerfung unter die Vorgaben der Herkunft.
Hier bekommen wir zugleich den entscheidenden Punkt zu fassen: Nach dem Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland steht der einzelne Mensch, die Person am Anfang der staatlichen Ordnung. Jeder Mensch ist also Inhaber oder „Träger“ letzter, unveräußerlicher Rechte. Die staatliche Ordnung „dient“ nur der Freiheit des Menschen. Die Grundrechte der Person, die Würde des Menschen sind unantastbar. Würde und Freiheit jedes Menschen sind – in der Sprache der Religion geredet – etwas Heiliges, also etwa Unverletzbares. Dem dient die Politik und der Staat. Die oberste Loyalität der Bürger soll also nach dem Willen des Grundgesetzes nicht dem Staat selbst, sondern der Freiheit und dem Recht der Bürger, ja des Menschen überhaupt gelten. Die Selbstbindung des Staates an die Freiheit und Würde des Menschen steht nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland über der Bindung des Bürgers an den Staat und seine Institutionen.
„Türkisch ist meine Muttersprache. Wenn ich meiner Mutter meine Zuneigung ausdrücke, dann tue ich das in türkischer Sprache. Möchte ich meinem Vater meinen Respekt bezeugen, so verbeuge ich mich vor ihm und küsse ihm die Hand. So bekundet ein junger türkischer Mann seinen Respekt gegenüber Älteren. Ebenso ist mir die Integrität und Souveränität der Türkei heilig.“
Diese Sätze von Kamuran Sezer werden wohl sehr viele in Deutschland lebende Türken unterschreiben. Die Bindung dieser „Türken mit deutschem Pass“, wie sie sich selber sehen, an ihr eigentliches Vaterland ist ungebrochen. Dies darf uns nicht verwundern, denn so ist das ihnen seit Gründung der Republik im Jahr 1923 ununterbrochen gelehrt worden. Die Staatsordnung der Türkei – dies zeigt jeder Blick in ein türkisches Klassenzimmer, jeder Blick in die türkische Nationalhymne – lehrt jeden Morgen die unbedingte, gläubige Hingabe des Einzelnen an das Heimatland, Heimatland gesehen als unlösbare Verbindung von „Blut“, also Abstammung, „Land“, also das konkrete Staatsgebiet der Türkei, „Sprache“, also Türkisch, und „Volk“, also Staatsvolk der Türkei, und „Vater aller Türken“, also Kemal Atatürk.
Da wo in kirchlichen Schulen Deutschlands das Kreuz hängt, hängt in türkischen Klassenzimmern die Flagge des unsterblichen Vaterlandes und das Porträt des verehrten Staatsgründers Kemal Atatürk. Ich meine: Wir Deutsche sollten einsehen, dass wir die Türken nicht von ihrer Polung auf das ewige Türkentum umerziehen können. Generationen um Generationen sind in dem unbedingten, religiösen Glauben an die Heiligkeit der Integrität und Souveränität der Türkei erzogen worden. Das gibt man nicht so einfach auf, selbst wenn man über Generationen hinweg im Ausland lebt.
Vorrang der Freiheit des Einzelmenschen vor dem Staat und dem Volk in Deutschland – Vorrang des Volkes und des Staates vor der Freiheit des Einzelnen in der Türkei: Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der deutschen und der türkischen Staatsauffassung.
Welche ist nun besser? Das ist in Deutschland letztlich eine Frage der freien Entscheidung. Die Bundesrepublik Deutschland, das deutsche Volk als Träger der staatlichen Souveränität hat jedoch als Gemeinschaft eine klare Entscheidung getroffen. Die Menschenwürde ist das Wichtigste. Und die Bundesrepublik Deutschland kann von jedem verlangen, der sich dauerhaft als ihr Bürger sieht, dass die Höherwertigkeit der Freiheitsrechte des Einzelnen anerkannt wird. Die Person zählt in Deutschland mehr als das Kollektiv, die individuellen Rechte der Person stehen eindeutig über den Gruppenrechten der verschiedenen „Stämme“ des Staatsvolkes, also der Sachsen, Russen, Bayern, Türken, Thüringer, Polen, Schwaben usw.
Jeder, der hier lebt, hat das unveräußerliche Recht, selbst zu bestimmen, als was er sich sieht. Er kann sich als Türke mit deutschem Pass sehen. Er kann sich als Schwabe mit deutschem Pass sehen. Er kann sich als Deutscher mit schwäbisch-bayerischen Wurzeln sehen, als Atheist mit europäischen Wurzeln oder einfach als ein vielfach bestimmtes, vielfach abhängiges oder vielfach freies Ich. Es kommt letztlich ganz auf die Freiheit des einzelnen an. Solange er das Grundgesetz und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland achtet, kann er tun und lassen, was er will. Und er kann sich sehen, als was er will.
Er kann seinen Vätern die Hände küssen und dann aufbrechen, wohin er will. Das ist Freiheit.
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Beim Überschreiten des Rheines in Düsseldorf, Aufnahme eines Lechschwaben vom 16. Januar 2013. Denn Freiheit bedeutet Überschreiten von natürlichen Grenzen